Bisexual Visibility Day – Flaggenhissung in Darmstadt

Anlässlich des “Bisexual Visibility Day” hat die Stadt Darmstadt am 23.09.2022 auf dem Luisenplatz die Bisexuellen-Flagge gehisst.

Hier die Rede dazu: (Text Kerstin, vorgetragen von Heidi)

„Der blinde Fleck in Bezug auf Bisexualität beeinträchtigt seit Langem die Wahrnehmung vieler Menschen. Das liegt nicht zuletzt an Mythen und vorsätzlichen Missverständnissen. Mit jedem Mythos, den die Menschen als solchen erkennen, wird dieser blinde Fleck kleiner. Wir müssen exakte Informationen verbreiten und aufklären, damit die Menschen – eingeschlossen die folgende Generation – glücklich damit sein können, wer sie sind und wen sie lieben.“

Das schreibt die bisexuelle Wissenschaftlerin Julia Shaw in ihrem in diesem Jahr erschienen Buch „Bi. The hidden culture, history and science of bisexuality.“ Das Buch gibt einen bisher nicht dagewesenen Überblick über Bisexualität in Geschichte, Kultur und Wissenschaften und hat der Bisexualität in den letzten Monaten ein ganz neues Maß an Sichtbarkeit verschafft. Die Sichtbarkeit von Bisexualität ist auch das Thema des heutigen Tages. Dass die Bi-Flagge heute hier über dem Luisenplatz weht, schafft Sichtbarkeit für eine Gruppe von Menschen, von denen viel zu viele ihre sexuelle Identität verbergen. Während etwa 29% der Lesben und 26% der Schwulen ihre sexuelle Orientierung vor so gut wie allen wichtigen Menschen in ihrem Leben geheim halten, sind es sage und schreibe 74% aller Bisexuellen, die praktisch vollständig ungeoutet leben, so der 2020 veröffentlichte Bi Report von Stonewall UK.

Diese Unsichtbarkeit hat viele Gründe. Sie hat mit Stigmatisierung und Vorurteilen zu tun; mit der Heteronormativität der Gesellschaft, aber auch damit, dass sowohl die queere als auch die heterosexuelle Community Bisexualität häufig gleichsetzen mit einer Phase, die lediglich den Übergang von der einen in die andere der beiden Sphären markiert. Auch wenn es nicht ausgeschlossen ist, dass das für einzelne Menschen so stimmt, ist es wichtig, dass der Bisexualität deshalb nicht der Stellenwert als eigenständige sexuelle Orientierung abgesprochen wird, die die Identität einer Person wesentlich prägen kann.

„Ich wusste, wen ich liebte, aber ich wusste nicht, wo ich hingehörte“ – das sagt Julia Shaw in einem Vortrag über ihr jüngeres Ich, und sie beschreibt damit, was viele Bisexuelle erleben. Menschen, die in der Lage sind, sowohl hetero- als auch homosexuell zu empfinden, fühlen sich fast immer ein bisschen falsch, egal, ob sie sich in der queeren Community oder in einem heteronormativ geprägten Umfeld bewegen. Sind sie in einer Beziehung, werden sie von anderen Menschen entsprechend der Konstellation entweder als hetero- oder homosexuell zugeordnet. Doch eine Beziehung ändert meistens nicht die eigene Verortung und das grundlegende innere Empfinden. Bisexualität gewinnt an Sichtbarkeit, wenn wir sie mitdenken. Eine Person in einer heterosexuell gelesenen Beziehung ist möglicherweise heterosexuell – oder auch bi. Einem gleichgeschlechtlichen Paar ordnen wir auf den ersten Blick eine homosexuelle Orientierung zu – aber auch in dieser Konstellation ist die Möglichkeit, dass eine oder beide Personen bisexuell sind, immanent.

Was also tun, um für bisexuelle Sichtbarkeit zu sorgen? Die Flagge zu hissen ist in jedem Fall schon mal eine gute Idee, denn so schaffen wir einen Anlass, um das zu tun, was uns weiterbringt: Lasst uns über Bisexualität sprechen, sie mitdenken, sie willkommen heißen. Geben wir dem Buch von Julia Shaw mit seinem schönen Umschlag in den Farben der Bi-Pride-Flagge einen Platz in unserem Bücherregal. Erzählen wir unseren Kindern, dass Beziehungen zwischen Menschen aller Geschlechter gleich wertvoll sind, und dass sie alle wunderbar sein können. Denn dann geben wir ihnen die Chance, sich niemals falsch zu fühlen, egal, zu welchen Geschlechtern sie sich hingezogen fühlen, und egal, wie ihre Beziehungen von außen zugeordnet werden.

Und ganz besonders heute, am Tag der bisexuellen Sichtbarkeit, feiern wir diese besondere Fähigkeit: Die Fähigkeit, Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht zu lieben und Beziehungen zu gestalten, die nicht von Stereotypen und Rollenbildern geprägt sind, und in denen Menschen in ihrer Vielfältigkeit und mit allen Facetten ihrer Persönlichkeit wachsen und geborgen sein können.”