Tag der Gewalt gegen Frauen in Darmstadt

Am 25.11.2020 hat der FemStreik Darmstadt und die interventionistische Linke Darmstadt in Kooperation mit CatCalls Darmstadt zu einer Kundgebung auf dem Darmstädter Friedensplatz sowie einer Sprühkreideaktion aufgerufen, um den internationalen Tag der Gewalt gegen Frauen zu begehen.

Auf Anfrage von Catcalls Darmstadt hat der Jugendvorstand von vielbunt einen Redebeitrag dazu erstellen lassen.

Hierfür wurde mit Katharina Freitag eine Masterstudentin der Geschichte beauftragt, die sich geschichtswissenschaftlich mit der Entwicklung des Frauenbildes im heutigen Deutschen Raum beschäftigt.

Dabei sollte insbesondere eine sachliche sowie informative Betrachtung des Themas erzeugt werden, welche gesellschaftsverändernde Prozesse nachvollziehen lässt und erläutert, wie diesen Entwicklungen künftig entgegengewirkt werden könnte. Speziell wird bei dieser Betrachtung auf das veraltete Festhalten an einem konstruierten, binären Geschlechtersystem verwiesen.

Autorin Katharina Freitag (Bildquelle: Katharina Freitag privat)

Diese Rede wurde aufgrund der aktuellen Corona-Fallzahlen nicht in persönlicher Präsenz unsererseits gehalten, sondern stellvertretend vorgetragen:

Zur Entwicklung der Kategorie „Frau“ seit der Frühen Neuzeit (Katharina Freitag)

Heute demonstrieren wir gegen sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt gegen Frauen*. Danke an CatCalls Darmstadt für ihren Aufruf dazu! Es gibt nicht nur die offensichtlichen Dinge, über die es sich zu diesem Anlass zu sprechen lohnt und die hier und heute ebenfalls ausgesprochen werden. Wir können diesen Tag auch nutzen, um die Wurzeln des Problems genauer zu betrachten. Beispielsweise kann man sich durchaus fragen, warum es sich hier um ein Themenfeld handelt, das unsere Gesellschaft als Sonderthematik unter der Kategorie „Frauenthema“ verortet. Woher kommt eigentlich diese Trennung, die sich nicht nur in Alltagsdiskussionen zeigt?

Auch im akademischen Diskurs der Geschichtswissenschaft wird diese Aufteilung deutlich, in dem gerade das Feld der „Frauengeschichte“ eine Hochkonjunktur erlebt, nachdem es jahrzehntelang ein Schattendasein geführt hat. Historische Frauenfiguren erlangen endlich die Aufmerksamkeit, die ihnen zusteht und tragen damit zu einem umfassenderen, vollständigeren Blick auf die Menschheitsgeschichte bei. Doch ein bitterer Beigeschmack bleibt. Wieder ist eine gesonderte Betrachtung nötig, wieder die Spezialthematik, auch wenn sie inzwischen kaum noch von seriösen Wissenschaftler*innen zu übergehen ist. Der Herkunft dieser Schwarz-Weiß-Trennung möchte ich heute ein wenig auf den Grund gehen.

Ich selbst beschäftige mich in meinem Studium der Geschichtswissenschaft mit der Frühen Neuzeit, also grob gesagt mit der Zeitspanne vom 16. bis 19. Jahrhundert. In dieser Epoche bildeten sich die meisten modernen Kategorien und Strukturen erst aus, da ist die soziale Kategorie „Frau“ keine Ausnahme. Ich finde es wichtig nachzuvollziehen, woher unsere heutige Auffassung davon, was eine Frau ist, eigentlich kommt. Denn eines vorab: Geschlechterrollen unterliegen immensem historischen Wandel und sind damit immer auch eine Konstruktion.

Geschlecht ist im Spätmittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit keine in Stein gemeißelte Kategorie.[1] Vielmehr zeigt sich an dem ausgeprägten Interesse zur Schaffung einer klaren Geschlechterordnung vonseiten kirchlicher wie juristisch-obrigkeitlicher Institutionen, dass genau dies nicht der Fall war. Der als anarchisch interpretierte Naturzustand sollte zugunsten einer gottgewollten Ordnung überwunden werden. Juristen suchten wiederum eine Legitimierung der Geschlechterungleichheit und fanden sie in christlichen Texten. Diese Motivation, eine Ordnung herzustellen, war der Grundstein von Gesetzgebung und Staatswesen im modernen Sinne, die christliche Anthropologie stabilisierte zudem Herrschaftsansprüche.[2] Es sollte einige Jahrhunderte dauern, bis sich dieser Gedanke einer strengen Geschlechterbinarität konkret gesellschaftlich abbildete. Geschlecht war in der Frühen Neuzeit keinesfalls die wichtigste soziale Kategorie um die Position eines Menschen in der Gesellschaft zu bestimmen. Vielmehr konstituierte sich innerhalb des Sozialverbands Haushalt eine Hierarchie. Die Zugehörigkeit oder der Ausschluss von diesem Sozialverband entschied effektiv über die Identität einer Person, nicht ihr Geschlecht.[3] Selbst zeitgenössische Rechtsgelehrte – wohlgemerkt ausschließlich Männer – überschätzten die Kategorie Geschlecht in ihrer realen Ausprägung.  Während viele Männer genauso wenig am politischen Leben beteiligt waren, übten hingegen viele Frauen mit Vermögen und Besitz informelle und politische Autorität aus.[4]

Der Historiker des bürgerlichen 19. Jahrhunderts liest also diese Einschätzung von männlichen Rechtsgelehrten der Frühen Neuzeit, die wohl der entwickelten Norm, doch nicht der Realität entsprechen und nimmt sie im schlimmsten Fall unkritisch für bare Münze. Inzwischen ist die Wissenschaft zum Glück weiter.[5] Wir wissen heute, dass unser Blick auf Geschlechterrollen der Frühen Neuzeit durch die Interpretationen von Historikern aus dem 19. Jahrhundert gefärbt sind, die ihre eigene gesellschaftliche Realität auf die Erforschung der Vergangenheit übertrugen.[6] Denn unser heutiges Verständnis von „Frau“ und auch „Mann“, das den Geschlechtern verschiedene Aufgaben und Eigenschaften zuschreibt und sie damit in zwei gegensätzliche Pole einteilt, kommt aus dem späten 18. Jahrhundert. Gerade psychologische Merkmale zur Konstruktion von Geschlecht zu verwenden, ist ein vergleichsweise neues Phänomen. Die Trennung in verschiedene gesellschaftliche Sphären, ist eng verknüpft mit der bürgerlichen Gesellschaft, die im 19. Jahrhundert zur Leitkultur avancierte. Man trennte Frauen und Männer auf durch die vermeintlichen Gegensätze von Natur und Kultur, verortete die Frau im Haus und den Mann im öffentlichen Leben. Auch hier benötigte man wieder eine Autorität, um die Geschlechterungleichheit zu begründen. Dieses Mal war es nicht die Bibel, sondern die sich ausbildende professionalisierte Wissenschaft. In sonderanthropologischen Studien beschäftigte man sich mit „dem Weib“ und stellte seine Andersartigkeit und seine Eigenschaften heraus. Da haben wir sie wieder, die Sonderkategorie, extra geschaffen für die „Frau“. Es folgte der systematische Ausschluss von historischen Frauenfiguren wie ich ihn eingangs erwähnt habe.[7]

Für die Zukunft wünsche ich mir, dass sich unsere Gesellschaft mit dem historisch konstruierten Charakter von „Frau“, aber auch von „Mann“, auseinandersetzt. Denn immer noch gibt es hier zu viele Missverständnisse, zu wenig Wissen darüber, dass es gerade NICHT die Wissenschaftler*innen und insbesondere Genderforscher*innen sind, die Geschlechterdiversität angeblich erfinden, sondern dass wir selbst weiterhin an der konstruierten Binarität der Geschlechter festhalten. Vielleicht beginnen wir dann auch endlich, sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt gegen Frauen* nicht mehr als „Frauenthema“, sondern als gesamtgesellschaftliche Herausforderung zu begreifen.

Dankeschön, dass Sie alle heute ein Stück weit dazu beigetragen haben, indem Sie mir Ihre Zeit geschenkt haben!


[1] Claudia Opitz-Belakhal, Geschlechtergrenzen und ihre Infragestellung in der Frühen Neuzeit, in: Christine Roll [u.a.] (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln 2010, S. 527-534, hier S. 531.

[2] Heide Wunder, Normen und Institutionen der Geschlechterordnung, in: Gisela Engel/ Heide Wunder (Hrsg.), Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Königstein 1998, S. 57-78, hier S. 60f.

[3] Heide Wunder, Einleitung, in: Heide Wunder (Hrsg.), Dynastie und Herrschaftssicherung. Geschlechter und Geschlecht, Berlin 2002, S. 9-27, hier S. 16f.

[4] Natalie Zemon Davis, Frauen, Politik und Macht, in: Arlette Farge/ Natalie Zemon Davis (Hrsg.), Frühe Neuzeit. Frankfurt a.M. [u.a.] 1994, S. 189-210, hier S. 189.

[5] Claudia Ulbrich, Art. „Geschlechterrollen“, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, 2019.

[6] Arlette Farge/ Natalie Zemon Davis, Einleitung, in: Arlette Farge/ Natalie Zemon Davis (Hrsg.), Frühe Neuzeit. Frankfurt a.M. [u.a.] 1994, S. 11-26, hier S. 12.

[7] Claudia Ulbrich, Art. „Geschlechterrollen“, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, 2019.